Die Leiden des jungen Werther
von Johann Wolfgang von Goethe

Presented by

Public Domain Books

Am 15. Dezember

Was ist das, mein Lieber? Ich erschrecke vor mir selbst! Ist nicht meine Liebe zu ihr die heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Habe ich jemals einen strafbaren Wunsch in meiner Seele gefühlt?—ich will nicht beteuern—und nun, Träume! O wie wahr fühlten die Menschen, die so widersprechende Wirkungen fremden Mächten zuschrieben! Diese Nacht! Ich zittere, es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen Busen gedrückt, und deckte ihren liebelispelnden Mund mit unendlichen Küssen; mein Auge schwamm in der Trunkenheit des ihrigen! Gott! Bin ich strafbar, daß ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle, mir diese glühenden Freuden mit voller Innigkeit zurückzurufen? Lotte! Lotte!—und mit mir ist es aus! Meine Sinne verwirren sich, schon acht Tage habe ich keine Besinnungskraft mehr, meine Augen sind voll Tränen. Ich bin nirgend wohl, und überall wohl. Ich wünsche nichts, verlange nichts. Mir wäre besser, ich ginge”.

Der Entschluß, die Welt zu verlassen, hatte in dieser Zeit, unter solchen Umständen in Werthers Seele immer mehr Kraft gewonnen. Seit der Rückkehr zu Lotten war es immer seine letzte Aussicht und Hoffnung gewesen; doch hatte er sich gesagt, es solle keine übereilte, keine rasche Tat sein, er wolle mit der besten Überzeugung, mit der möglichst ruhigen Entschlossenheit diesen Schritt tun.

Seine Zweifel, sein Streit mit sich selbst blicken aus einem Zettelchen hervor, das wahrscheinlich ein angefangener Brief an Wilhelm ist und ohne Datum unter seinen Papieren gefunden worden:

Ihre Gegenwart, ihr Schicksal, ihre Teilnehmung an dem meinigen preßt noch die letzten Tränen aus meinem versengten Gehirne. Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten! Das ist alles! Und warum das Zaudern und Zagen? Weil man nicht weiß, wie es dahinten aussieht? Und man nicht wiederkehrt? Und daß das nun die Eigenschaft unseres Geistes ist, da Verwirrung und Finsternis zu ahnen, wovon wir nichts Bestimmtes wissen”.

Endlich ward er mit dem traurigen Gedanken immer mehr verwandt und befremdet und sein Vorsatz fest und unwiderruflich, wovon folgender zweideutige Brief, den er an seinen Freund schrieb, ein Zeugnis abgibt.

Continue...

Erstes Buch  •  Am 4. Mai 1771  •  Am 10. Mai  •  Am 12. Mai  •  Am 13. Mai  •  Am 15. Mai  •  Den 17. Mai  •  Am 22. Mai  •  Am 26. Mai  •  Am 27. Mai  •  Am 30. Mai  •  Am 16. Junius  •  Am 19. Junius  •  Am 21. Junius  •  Am 29. Junius  •  Am 1. Julius  •  Am 6. Julius  •  Am 8. Julius  •  Am 10. Julius  •  Am 11. Julius  •  Am 13. Julius  •  Am 16. Julius  •  Am 18. Julius  •  Den 19. Julius  •  Den 20. Julius  •  Am 24. Julius  •  Am 25. Julius  •  Am 26. Julius  •  Am 30. Julius  •  Am 8. August  •  Am 10. August  •  Am 12. August  •  Am 15. August  •  Am 18. August  •  Am 21. August  •  Am 22. August  •  Am 28. August  •  Am 30. August  •  Am 3. September  •  Am 10. September  •  Zweites Buch  •  Am 20. Oktober 1771  •  Am 26. November  •  Am 24. Dezember  •  Den 8. Januar 1772  •  Am 20. Januar  •  Den 8. Februar  •  Am 17. Februar  •  Am 20. Februar  •  Den 15. März  •  Am 16. März  •  Am 24. März  •  Zur Nachricht - - Am 19. April  •  Am 5. Mai  •  Am 9. Mai  •  Am 25. Mai  •  Am 11. Junius  •  Am 16. Junius  •  Am 18. Junius  •  Am 29. Julius  •  Am 4. August  •  Am 21. August  •  Am 3. September  •  Am 4. September  •  Am 5. September  •  Am 6. September  •  Am 12. September  •  Am 15. September  •  Am 10. Oktober  •  Am 12. Oktober  •  Am 19. Oktober  •  Am 26. Oktober  •  Am 27. Oktober  •  Am 30. Oktober  •  Am 3. November  •  Am 8. November  •  Am 15. November  •  Am 21. November  •  Am 22. November  •  Am 24. November  •  Am 26. November  •  Am 30. November  •  Am 1. Dezember  •  Am 4. Dezember  •  Am 6. Dezember  •  Der Herausgeber an den Leser  •  Am 12. Dezember  •  Am 15. Dezember  •  Am 20. Dezember  •  Ryno  •  Alpin